UdZPraxis 2-2016

41 Im Fokus | UdZ Praxis wie die Frage nach Arbeitsplätzen, drängen in den Vor- dergrund. Alle industriellen Revolutionen waren ge- samtgesellschaftlich verändernd. Automatisierungen verändern – direkt oder indirekt – das private Leben, wie Lebensdauer oder Pflichtschuljahre oder medizi- nische Versorgung, ebenso wie die Produktion. Dieses Bewusstsein gelangt langsam wieder in den Fokus. Ich kann Ihre Einschätzung fehlender Ganzheitlich- keit im Grundsatz teilen, erlebe aber auch, dass hier gerade eine Veränderung stattfindet. Su: Ich habe das Gefühl, dass sehr oft die Bereitschaft, sich auf das Thema weitsichtiger, auch auf fachfremderem Boden einzulassen, noch nicht da ist. Auch lassen sich für mein Dafür- halten die Meinungen und Haltungen vieler Leute meist nur als Schwarz-Weiß-Denken beschreiben. Bei Ihnen nehme ich die Wahrnehmung des Themas ganz anders wahr. Gibt es im uni- versitären Kontext häufiger interdisziplinäre Bewegungen auf das Thema zu? Nehmen Kollegen auch Zusammenhänge außer- halb ihres Faches zunehmend in den Blick? S. Jeschke: Seit rund drei Jahren werde ich um Vorträge zum Thema Industrie 4.0 gebeten. Ich habe viele ange- nommen und dabei auch immer Aspekte gesellschaftli- cher Interpretation mit in den Fokus genommen. Neben der sehr wichtigen technischen Seite kamen Themen auf, die sich mit Industrie 4.0 historisch oder aus einer kultu- rellen Perspektive auseinandersetzen, etwa im Kontext von Innovationskulturen. Immer wieder, wie z. B. auf der DKE-Tagung „Normung vernetzt Zukunft“ oder dem Anwaltszukunftskongress 2016, ist entscheidend, zu ver- mitteln, dass das Wesen der Industrie 4.0 ein sehr ande- res ist als das uns vertraute Bild von Technik. Zum ersten Mal gestalten wir Systeme, die selbständig lernfähig sind. Das bedeutet, das alte Steuerungsparadigma bricht auf: Nicht mehr ich kontrolliere das Verhalten der Systeme in der Zukunft, sondern die Systeme entwickeln sich selber weiter, und diesen Vorgang kann ich nur in Bezug auf zen- trale Prinzipien kontrollieren, nicht aber in den „opera- tiven Details“. Vorträge sind derzeit vielleicht der effizienteste Weg, die Strukturen von politischen Stiftungen, Organisa- tionen, der Industrie etc. zu erreichen. Das Interesse an diesem Gebiet ist sehr groß. Deshalb nehme ich Ein- ladungen im Grundsatz auch gerne an – auch wenn es derzeit so viele sind, dass ich tatsächlich gezwungen bin, oft abzusagen, um alle meine anderen Aufgaben überhaupt noch wahrnehmen zu können. Ich glau- be, dass das die einzige Chance einer Gruppe, wie bei- spielsweise einer politischen Partei, ist: einen externen Sprecher einzuladen, der frei von allen Rahmem- und Zwangsbedingungen agieren kann. Und da nehme ich momentan eine Veränderungskultur wahr. Su: Sie geben das Stichwort „Kulturelle Prozesse, die dringend verändert werden müssen“: Dinge wie Kreativität, Phantasie, ausprobieren, scheitern etc. sind in der „Arbeitsethik“ der meis- ten deutschen Unternehmen fast nicht vorhanden bzw. nicht gern gesehen; dieseWörter assoziiert manmehr mit der IT-Start- up-Branche, die kulturell von den USA geprägt ist, Stichwort Silicon Valley. Ändern sich arbeitskulturelle Prozesse zukünftig, wenn auch langsam, auch bei uns, in größeren, aber auch kleine- ren Konzernen? Geht es gegebenenfalls gar nicht anders? S. Jeschke: Das wird mit absoluter Sicherheit so sein. Wir erleben diese Veränderungen in praktisch allen Bereichen. Betrachten wir etwa die Softwareentwicklung, in der wir ursprünglich mit Organisationsmodellen, gearbeitet ha- ben, die im weitesten Sinne überwiegend wasserfallartig, stark hierarchisch und sequenziell waren: Ab den 80er Jahren und vor dem Hintergrund immer vielfältigerer und umfangreicherer Softwarepakete brachen schließlich Konzepte wie das spiral model und allgemeiner Prinzipien des agile managements durch. Es wurde deutlich, dass bei immer komplexeren Anforderungen der Wasserfall-An- satz nicht funktioniert: Während der Entwicklung traten bereits neue Anforderungen auf, die in den alten Model- len nicht berücksichtigt werden konnten. Die Ziele ver- änderten sich noch während der Entwicklung, und damit häufig auch die angenommene Nutzergruppe. Entsprechend brauchen wir heute agile Manage- mentprinzipien nicht nur in der Softwareentwick- lung, sondern auf allen Ebenen, etwa im Bereich von Hierarchiestrukturen und Führungsmodellen. Und sehr grundsätzlich sind viele bestehende Prozesse in der Form, wie wir sie betreiben, zu sperrig und lang- sam. Ein konkretes Beispiel ist etwa das Patentwesen. Patentprozesse funktionieren heutzutage noch wie vor 30 oder 50 Jahren. Dem Verfassen und Einreichen um- fangreicher Unterlagen folgen verschiedene Vorprüfun- gen, bis ein Patent dann tatsächlich angemeldet wird, der Prozess dauert Monate. Heute werden aber vielfach digi- tale Konzepte und Algorithmen patentiert, die sehr hohe Entwicklungsgeschwindigkeiten haben. Wenn der Paten- tierungsprozess dann irgendwann endlich abgeschlossen ist, interessiert das Ergebnis oft niemanden mehr, weil inzwischen bereits die nächste Neuerung vorliegt. Der ursprüngliche Algorithmus ist dann zwar patentiert, den- noch kaum noch von Interesse, der Nutzen für den Paten- tierenden also immer geringer.

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